RUDOLF KOHOUTEK
„Versetzen, Einfügen, Einwachsen – das sind die Umschreibungen der Aufpfropfung als einer Agrartechnik, mit der seit der Antike im Obst- und Weinbau Pflanzen veredelt werden. Dabei ist die Aufpfropfung nicht nur ein Verfahren, um (…) Pflanzen zu hybridisieren und damit eine quantitative und qualitative Steigerung der Erträge zu erreichen, sondern das Pfropfen hatte auch immer schon einen spielerischen, einen experimentellen Charakter – und tritt somit als eine Form biologischer bricolage in Erscheinung.“ [1]
„Zugleich bringt die Kulturtechnik des Pfropfens einen Begriff der Schnittstelle ins Spiel, der ein weites Feld kulturwissenschaftlicher und medientechnischer Implikationen eröffnet. Die Schnittstelle steht (…) für die Notwendigkeit, ein ‚Dazwischen‘ (Debray) zu organisieren.“ [2]
„Dieses Dazwischen, so Debray, ähnelt dem, was Bruno Latour ,Hybride‘ nennt, also Mediationen, die sowohl technischer als auch sozialer und kultureller Natur sind. Um mit derartigen Kreuzungen und Vermischungen umzugehen, sind wir sehr schlecht ausgestattet. Mit anderen Worten, es besteht Nachholbedarf: Gefragt ist eine Typologie von Hybridisierungsformen im Spannungsfeld von Vermischung und Vermittlung.“ [3]
„Allein das Zitieren stellt bereits eine erste Hybridisierung von Texten dar (Derrida), eine „Erzeugung, Verschiebung und Überlagerung von Spuren“ (Rheinberger), nämlich als experimentelles Spiel, in dessen Verlauf es zu ständigen Verschiebungen und Verlagerungen der Grenzen eines Experimentalsystems kommt, sobald es auf ein anderes Experimentalsystem trifft.“ [4]
„Freilich gibt es noch ganz andere Bereiche – etwa interkulturelle oder intermediale, aber auch medizinhistorische und religionsgeschichtliche Zusammenhänge – in denen Pfropfen, Impfen, Transplantieren als Figuren der epistemischen und poetischen Grenzerweiterung, oder gar der Grenzverletzung ins Spiel kommen.“[5]
„Vermischungen und Gemische verschiedener Art haben vor dem Hintergrund unterschiedlicher fachlicher und theoretischer Traditionen sehr unterschiedliche Bezeichnungen bekommen: Neben Hybridität wird beispielsweise auch von Kreolisierung, Synkretismus, Bricolage, Intertextualität oder lntersexualität gesprochen und neben Hybriden auch von Bastarden oder Cyborgs.“ [6]
„Ist die Idee der Vermischung von Nutzungen, Elementen, Strukturen etc. das Anti-programmatische? Kann man tatsächlich alles mischen, eine Art Universal-Hybrid denken? Das abendländische Denken seit der Antike beruht auf der Auseinanderlegung, also Entmischung von Elementen durch Kategorisierung, Klassifizierung, später Standardisierung, Normierung, was hergestellte Objekte betrifft. Man beobachtet und analysiert (= zerlegt) die Natur, man baut aus distinkten Objekten Artefakte.“[7]
Was ist heute der Antrieb für eine Konjunktur von Hybridität? – Schlicht der Drang zu „Neuem“, vielleicht aber auch der Eindruck, dass es »nichts Neues« mehr gibt, und dass man nur mit „neuen Kopplungen“ weiterkommt?
Die Ökologie ist die gegenwärtige Paradewissenschaft der natürlichen und technischen Verwobenheit. Der Ausuferung des Komplexen versucht man mit territorialen Begrenzungen zu begegnen: Nische, Biotop, Biozönose, etc.
Hybridität hat seit den 1990er Jahren eine steigende Verbreitung gefunden. Aber bereits Marshall McLuhan war eine der TheoretikerInnen, die am frühesten die Metapher / Figur des „Hybriden“ ins Spiel brachten:
„Marshall McLuhan schrieb in seinem Buch Through the Vanishing Point, dass es die Aufgabe des Künstlers ist, Gegenräume zu kreieren, eine dritte Haut, die uns empfänglicher für andere Gedanken macht und unsere unbewusste, kulturell geprägte Befangenheit ausgleicht. Er ist auch der Auffassung, dass unser Verlangen, diese Räume wahrzunehmen, mit der Beschleunigung unserer Kultur wächst.“[8]
„Marshall McLuhan nannte dies die »Hybridtechnik«, die für eine kreative Entdeckungsreise unerlässlich ist. Er führt aus: »Der Bastard oder die Verbindung zweier Medien ist ein Moment der Wahrheit und Erkenntnis, aus dem neue Form entsteht. Denn die Parallele zwischen zwei Medien lässt uns an der Grenze zwischen den Formen verweilen (…). Der Augenblick der Verbindung von Medien ist ein Augenblick des Freiseins und der Erlösung vom üblichen Trancezustand und der Betäubung, die sie sonst unseren Sinnen aufzwingen.« (McLuhan 1968, S. 68).“ [9]
Schon in „Understanding Media“ (1964) hatte McLuhan die These aufgestellt, dass „durch Kreuzung oder Hybridisierung von Medien […] gewaltige neue Kräfte und Energien frei [werden], ähnlich wie bei der Kernspaltung oder der Kernfusion“.
„Char Davies merkt ebenfalls an, dass der Theoretiker Henri Lefebvre in seinem Buch The Production of Space (1974)zur „Schaffung von Anti-Umgebungen und ‚Gegenräumen‘“ aufruft, um die betäubende Wirkung der westlichen Metaphysik auszugleichen (Davies, S. 328).“ [10]
Grundlegend für die „Moderne“ waren nach Bruno Latour die erklärten Trennungen gegenüber den „Vormodernen“ und den „anderen Kulturen“: in Natur-Kultur, Kultur-Technik, Natur-Soziales etc. In der Praxis allerdings – aber immer unter der Hand – operierten die Modernen laufend mit „Hybriden“ aller Art, was Latour in einem seiner theoretischen Hauptwerke zum Urteil führt: „Wir sind nie modern gewesen“. [11] Tatsächlich breiten sich die Hybriden aus und sind immer weniger in das Paradigma der „Moderne“ zu integrieren. In den Tageszeitungen „häufen sich die Hybridartikel, die eine Kreuzung sind aus Wissenschaft, Politik, Ökonomie, Recht, Religion, Technik und Fiktion“, obwohl es (scheinbar) weiterhin die Seiten Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Literatur, Kultur, Vermischtes … gibt“. [12] – Latour bringt Beispiele einer einzigen Ausgabe von „Le Monde“: Eisschmelze in der Antarktis, Fluorwasserstoffe, Politik, Öko-Aktivisten…: alles in einem Artikel.
Damit kommen die »Hybride« ins Spiel: „Mit Michel Serres bezeichne ich diese Hybriden als Quasi-Objekte, denn sie nehmen weder die für sie von der Verfassung vorgesehene Position von Dingen ein, noch die von Subjekten. Sie lassen sich auch unmöglich alle in die Mittelposition hineinzwängen, so als wären sie lediglich eine Mischung von Naturding und sozialem Symbol.“[13] – Sie sind also vermischte Entitäten, und für diese behauptet Latour: „Aber nicht wir vermengen“, vielmehr: „aus diesem Gemenge, aus diesen Verwicklungen besteht unsere Welt.“ – Und die Aufteilung stimmt nicht: „links die Erkenntnis der Dinge, rechts Interesse, Macht und Politik der Menschen“.[14]
Wenn die Überzeugungen der Moderne – die Trennungen von Natur/Kultur, Natur/Technik, Natur/Gesellschaft etc. – nicht haltbar sind, führt dies auch zu einem völlig anderen Ansatz einer „Neuen Soziologie für eine neue Gesellschaft“, zu einer Auflösung der Polarität von Subjekt und Objekt und damit erst zu einer Theorie der „Hybride“.[15]
„Hybridität ist insofern selbst ein Hybrid – ein autologischer Begriff, der eine wissenschaftliche Position unmittelbar mit praktisch-politischen Konnotationen und Konsequenzen vermischt und überdies darauf hinweist, dass wir eine Sensibilität dafür entwickeln müssen, dass dies vermutlich auch für alle anderen Begriffe und wissenschaftlichen Klassifizierungsversuche gilt.“ [16]
„Die Lösung besteht – wieder einmal – darin zu lernen, wie man von Unbestimmtheiten zehrt, statt im Vorhinein zu entscheiden, wie das Mobiliar der Welt auszusehen hat.“ [17]
In ihrem berühmten »Cyborg Manifest« fordert „Donna Haraway (…) ein wieder verkörpertes Sehen als eine Art Wiedervereinigung mit den materiellen und technologischen Welten. Die Technologie selbst ist auch ein Grenzobjekt oder eine Schnittstelle zwischen den Welten. Werden neue Welten kreiert, so müssen auch neue Werkzeuge, Sprachen und Gesten entworfen werden, um die hybridisierte Erfahrung zu beschreiben. Hybridisiert ist sie deshalb, weil wir niemals von etwas völlig „Neuem“ sprechen können, denn es wäre in seiner Neuheit unverständlich.“ [18]
Hybrid – wenige andere Wörter bezeichnen den aktuellen, vielfach paradoxen Zustand unserer Welt treffender und umfassender – einer Welt, die gekennzeichnet ist von mitunter höchst widersprüchlichen und dennoch höchst wirkungsvollen Verbindungen:
– von Entgrenzungen, Verschmelzungen und Crossovers, neuen ökonomischen und politischen Koalitionen und Allianzen ebenso wie interdisziplinären Kooperationen in Kunst und Wissenschaft
– von globalen Kultur-Amalgamen, die aus der weltweiten Zirkulation von Menschen und Waren, von Zeichensystemen und Informationen erwachsen
– vom symbolischen wie physischen Eindringen der Maschinenwelt in unseren Körper – von bionischen Prothesen, Neuroimplantaten, Cyborgs und transgenetischen Chimären
– von Sampling, Collage und Re-Mix, von konsequenter Cross-Kompilation und Rekontextualisierung künstlerischer Ausdrucksmittel, -formen und -genres
– von eskalierenden Kämpfen gegen die Kontamination des Eigenen durch das Andere.
Michael Hardt und Toni Negri stellen in ihrem Buch “Empire” fest: “Hybridisierung wird zum zentralen Merkmal und zur Bedingung für den Kreislauf von Produktion und Zirkulation”.[19] Insofern ist es notwendig, zwischen Hybridität als einem Prozess kultureller Subversion und des subalternen Widerstands – wie bei Homi Bhabha – und Hybridität als einem industriellen Modell für die “Vermarktung der Ränder” zu unterscheiden.[20]
Wenn Hybridität zum Programm erhoben wird, sollten immerhin am Rande die Ursprünge des Paradigmas von Hybridisierung im Auge behalten werden: anstelle einer unbestimmten Vermischung von allem Möglichen die Qualitäten der Bestandteile und die Nachzeichnung der Linien, Herkunft und Geschichte sowie das jeweilige Umfeld, in das ein Hybrid gestellt wird und sich entwickeln kann, und nicht zuletzt die Prozesse der Hybridisierung, also die Zyklen der Vermischung, unter Umständen mit der Herausbildung neuer, sozusagen „reiner Formen“, bevor sich daraus wieder neue Hybride bilden können….
[1] Wege der Kulturforschung 2 – Pfropfen, Impfen, Transplantieren. L’arc, Romainmôtier 9.8.–12.8. 2007
Organisiert von Veronika Sellier (Migros-Kulturprozent) und Uwe Wirth (Universität Gießen)
[2] Wege der Kulturforschung 2, a.a.O.
[3] Müller / Paech: Intermedialitä. in: Ottmar Ette, Uwe Wirth (Hg.): Nach der Hybridität: Zukünfte der Kulturtheorie. edition tranvía . Verlag Walter Frey, Berlin 2014, S. 8
[4] Wege der Kulturforschung 2, a.a.O.
[5] Wege der Kulturforschung 2, a.a.O.
[6] Athanasios Karafillidis: a.a.O., Fußnote S. 17
[7] Wolfgang Pircher, Manuskript
[8] Carolyn Guertin: Queere Hybriden. Kosmopolitismus und verkörperte Kunst. In: Gerfried Stocker und Christine Schöpf /hg.): Hybrid: Living in Paradox. Ars Electronica 2005, Hatje Cantz 2005
[9] Carolyn Guertin: Queere Hybriden, a.a.O.
[10] Carolyn Guertin: Queere Hybriden, a.a.O.
[11] Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt/M. 2008, S. 7 ff.
[12] Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen, a.a.O., S. 8
[13] Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen, a.a.O., S. 70
[14] Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. a.a.O., S. 9
[15] Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Suhrkamp Frankfurt/M. 2007 und: Bruno Latour: Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen. Suhrkamp, Berlin 2014
[16] Athanasios Karafillidis: Formale Bedingungen von Hybridität und nicht-moderne Beobachter. In: Thomas Kron (Hg.): Hybride Sozialität – Soziale Hybridität, Seite 17
[17] Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Suhrkamp 2007, S. 201
[18] Carolyn Guertin: Queere Hybriden, a.a.O. – Siehe: Haraway, Donna: Manifesto for Cyborgs: Science, Technology, and Socialist Feminism in the 1980’s. In: Socialist Review 80. 1985. S. 65-108.
[19] Michael Hardt, Antonio Negri: Empire, Cambridge Mass./London 2000
[20] siehe: Ottmar Ette, Uwe Wirth (Hg.): Nach der Hybridität: Zukünfte der Kulturtheorie – Einleitung. edition tranvía – Verlag Walter Frey, Berlin 2014, S. 8